06.02.2023 | Webmagazin 2023/01 Die Spannung steigt

Welche Anforderungen kommen auf Verteilnetzbetreiber bei Blindleistungskompensation und -management zu? Dr. Markus Kraiczy | Lukas Wammes | Dr. Sören Patzack
soeren.patzack@bet-energie.de

Die bekannte Analogie zwischen Bier und Bierschaum auf der einen und Wirk- und Blindleistung auf der anderen Seite ist mathematisch zwar nicht ganz korrekt, doch die Quintessenz stimmt: Es kommt auf die richtige Mischung der Komponenten an! Da die Leistungstransite steigen und der Netzausbau voranschreitet, steigt auch der Bedarf an zusätzlicher Blindleistungskompensation im Stromnetz deutlich an. Verteilnetzbetreiber sollen hierzu einen stärkeren Beitrag leisten und nach einer neuen FNN-Anwendungsregel möglichst eine lokale Blindleistungskompensation umsetzen. Zusätzlich wird 2023 ein neues marktgestütztes Blindleistungsbeschaffungskonzept erwartet, sodass das „abgestandene“ Thema Blindleistung wieder in den Fokus der Verteilnetzbetreiber rücken wird. 

Die neue VDE-Anwendungsregel 4141-2 (Betrieb und Planung von Schnittstellen zwischen Verteilnetzen) vonSeptember 2022 strebt eine lokale Blindleistungskompensation der Verteilnetze an und setzt die Rahmenbedingungen für den Blindleistungsaustausch an den Verteilnetzschnittstellen. Die Einhaltung definierter Grenzen sollte durch den vorgelagerten Verteilnetzbetreiber noch in Q1/2023 erstmalig geprüft werden. Bei wiederkehrenden Abweichungen und Spannungsproblemen im vorgelagerten Netz sind gemeinsam kurzfristige Maßnahmen abzustimmen.  Die Anwendungsregel betrifft die Verteilnetzschnittstellen aller Verteilnetzebenen.

Neben neuen Anforderungen durch die FNN-Anwendungsregel wird zukünftig auch die Blindleistungsbeschaffung aufwendiger. Der § 12h EnWG sieht eine marktgestützte, transparente und diskriminierungsfreie Beschaffung von nicht frequenzgebundenen Systemdienstleistungen vor . 2023 wird ein neues Blindleistungsbeschaffungskonzept von der BNetzA erwartet. Das Gutachtermodell aus dem Projekt SDL Zukunft zur marktgestützten Blindleistungsbeschaffung sieht Wahlfreiheit der Netzbetreiber aus einem 3-Säulenmodell vor:

  • Säule A: teilweise regulierte Vergütung für Blindarbeit der Kundenanlagen (abhängig von Netzebene) im Rahmen der technischen Anschlussrichtlinien
  • Säule B: marktliche Beschaffung mit freier Preisbildung für bereitgestellte Blindarbeit und Blindleistung durch Kundenanlagen
  • Säule C: Investition der Netzbetreiber in eigene vollintegrierte Netzkomponenten (z. B. Kompensationsanlagen)   

Insgesamt ist zu erwarten, dass sich das neue Blindleistungsbeschaffungskonzept der BNetzA in wesentlichen Teilen an dem Gutachtermodell aus dem Projekt SDL Zukunft orientieren wird.    

Dass einige Verteilnetzbetreiber das Thema Blindleistung nicht links liegen lassen können, wird spätestens auch bei einem Blick in § 14d EnWG Netzentwicklungsplan sichtbar. Hier erfordert der Netzentwicklungsplan u. a. die Ausweisung des Bedarfs und die Deckung von nicht frequenzgebundenen Systemdienstleistungen, was insbesondere die Spannungsregelung/Blindleistungsbeschaffung betreffen wird. Die veränderte Versorgungsaufgabe und der Netzausbau können hier einen erheblichen Einfluss auf den Blindleistungsbedarf der Verteilnetze haben. 

Wenn nicht schon geschehen, ist spätestens jetzt der Zeitpunkt, sich auf die skizzierten Entwicklungen vorzubereiten. Wir empfehlen Folgendes:

  • Der Aufbau eines kontinuierlichen Blindleistungs-Monitoringprozesses an Verteilnetzschnittstellen (4-Quadrantenzähler) und relevanten großen Einspeisern und Verbrauchern wird notwendig. 
  • Analyse des Blindleistungsverhalten im eigenen Netzgebiet: Den VNB sollte das PQ-Verhalten an den Schnittstellen bekannt sein und auch wann, wie häufig und warum hohe bzw. ungewünschte Blindleistungsflüsse im Netzgebiet auftreten. 
  • Erfassung des Blindleistungsstellpotenzials im eigenen Netzgebiet: VNB sollten Analysen der vorhandenen Blindleistungsstellpotenziale durch Kompensationsanlagen, Erzeugungsanlagen und auch Gewerbe- und Industrieverbraucher im eigenen Netzgebiet durchführen.
  • Enge Kooperation mit benachbarten Netzbetreibern bei Blindleistungsmanagement/-kompensation forcieren: Die Blindleistungskompensation kann nur in enger Abstimmung der Netzbetreiber effektiv umgesetzt werden.  
  • Vorbereitung auf zukünftige Anforderungen beim Blindleistungsmanagement/-kompensation: Die Abschätzung der zukünftigen Entwicklung des Blindleistungsbedarfs im Netzgebiet und die Entwicklung von Strategien zur langfristigen Blindleistungsbeschaffung wird im Rahmen der Netzentwicklungspläne zunehmend erforderlich.

 

Relevante Quellen: G. Blumberg, C. Wagner, W. Lehnert, M. Bucksteeg, M. Greve: Marktgestützte Beschaffung von Blindleistung, Bericht im Vorhaben SDL-Zukunft im Auftrag des BMWi, 08/2021  


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